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Noémie Marsily über Mutterschaft, Verletzlichkeit und Kreativität

Interview

Noémie Marsily über Mutterschaft, Verletzlichkeit und Kreativität

Ein Interview mit der Künstlerin und MQ Artist-in-Residence Noémie Marsily.

Virginia Woolf schrieb, dass „eine Frau Geld und ein eigenes Zimmer braucht, wenn sie Literatur schreiben soll.“ Sie bezieht sich auf das intellektuelle Potenzial von Frauen und den übergroßen Einfluss von Männern, der eher auf fehlende Möglichkeiten als auf mangelndes Talent des anderen Geschlechts zurückzuführen ist. An der Schnittstelle zwischen Kunst und Politik schreibt das Filmfestival Tricky Women/Tricky Realities eine Filmgeschichte um, die die Beiträge von Männern privilegiert. Es schafft Möglichkeiten für Filmproduktion, Ausstellung, Kritik und den Vertrieb von Filmen für weibliche und/oder genderqueere Künstler:innen, was zu einem Ökosystem bewegter Bilder führt, die die Hegemonie des patriarchalischen Geschichtenerzählens herausfordern. Dies bringt die belgische Künstlerin Noémie Marsily in das MuseumsQuartier, in ein „Zimmer für sie alleine“. Sie wird hier für drei Monate als Artist-in-Residence wohnen.

Die Jury, durch deren positive Bewertung sie ihre Residency im MQ gewonnen hat, formulierte folgendes Statement zu ihrem letzten Film Ce qui bouge est vivant (Was sich bewegt, ist lebendig, 2022): "Die Konstruktion und Dekonstruktion der Persönlichkeit einer Mutter wird als ständiger Fluss von Gewinn und Verlust, tiefer Liebe und Abhängigkeit dargestellt. Faszinierend ist die minimalistische Verwendung der Zeichenlinien und ihr rauer Stil, hektisch wie das hektische Leben einer Mutter mit einem kleinen Kind."

Das Design der Figuren in deinen Filmen hat diese kindliche Qualität, und dann werden sie in immer gewalttätigeren und absurderen Situationen gezeigt. Was reizt dich an diesen Gegensätzen? Zwischen Unschuld und Feindseligkeit?

Ich mag es, Dinge ad absurdum zu führen. Ich bin da sehr spontan und intuitiv, ähnlich wie beim Zeichnen. Auch wenn ich jetzt 40 Jahre alt bin, kann ich mich immer noch in das Kind hineinversetzen, das ich war. Ich kann Dinge so sehen wie damals. Wenn ich Geschichten oder Zeichnungen erstelle, bin ich daran interessiert, ein Gleichgewicht zwischen Naivität und der Komplexität des Lebens zu finden. Das beschäftigt mich nicht nur bei der Grafik, sondern auch bei der Erzählung. Wenn man etwas Absurdes oder Gruseliges in einer kindlichen Zeichnung dramatisiert, führt das zu einer Konfrontation. Ein Bruch zwischen dem, wie etwas ist, und dem, wie es sein sollte.

Du meintest, du kannst dich in das Kind hineinversetzen, das du warst. Wie hat sich das geändert, nachdem du selber ein Kind bekommen hast?

Das ist ein Teil dessen, was ich in meinem letzten Film zu sagen versuchte: Was immer sich bewegt, ist lebendig. Wenn ich meine Tochter ansehe, kann ich mich in die Zeit, als ich selbst in ihrem Alter war, zurückversetzen und erinnere mich an die Beziehung, die ich damals zu meiner Mutter hatte. Ich kann eine starke Verbindung herstellen und vieles nachvollziehen, muss dabei aber beides sein – Mutter und Kind. Es ist faszinierend zu sehen, wie jemand aufwächst und ein Mensch wird, wie Kinder alles zum ersten Mal entdecken und eine Beziehung zu ihnen aufbauen. Ich kann mich durch sie in die Kindheit hineinversetzen, während ich gleichzeitig eine verantwortungsbewusste Erwachsene sein muss. Das ist sehr interessant.

Ce qui bouge est vivant (Whatever Moves Is Alive, 2022), Still © Noémie Marsily

Wie beurteilst du deinen neuesten Film im Vergleich zu seinen Vorgängern? Es scheint, dass er sich stilistisch als auch inhaltlich etwas abhebt. Was hat sich deiner Meinung nach geändert?

Ja, das ist richtig. Die Art und Weise, wie ich diesen Film erstellt habe, war anders als bei denen davor. Ich habe keine Geschichte geschrieben oder ein Storyboard benutzt, ich habe stattdessen Notizen meiner Tage- und Skizzenbüchern hergenommen und auf impressionistische Weise animiert. Ich habe versucht, etwas auszudrücken, das ich nicht ganz verstanden habe, zumindest am Anfang. Es ist ein Selbstporträt, aber ich glaube nicht, dass ich diese Art von Geschichten noch einmal in diesem Format erzählen werde. Meiner Meinung nach ist eine Graphic Novel weniger konfrontativ, weil es eine gewisse Distanz zwischen einem selbst und dem Publikum gibt. Ich bin ein zurückhaltender Mensch, und so intime Teile des eigenen Lebens vor so vielen Menschen auf eine Leinwand zu projizieren, erfordert eine gewisse Portion Mut. Bei diesem Film war es das erste Mal offensichtlich, dass es um mein Leben geht. Wenn ich mir den Film mit einem Publikum ansehe, ist er zu intensiv. Ich denke dann: "Oh, warum? Warum habe ich ihnen das gezeigt?!" Was immer sich bewegt, ist lebendig war eine grafische Erfahrung und der introspektivste Film, den ich je gemacht habe. Ich habe das durchgemacht und der Film ist das Ergebnis.

Wie würdest du das Verhältnis zwischen deinem Privatleben und deinem kreativen Schaffen beschreiben?

Ich denke, dass man immer Dinge, die man erlebt hat, in die Geschichten, die man schreibt, einbringt, aber bei Was immer sich bewegt, ist lebendig war es das erste Mal, dass ich mir wirklich dachte: "Okay, hier gibt es etwas, das ich ausdrücken möchte, und es ist wirklich persönlich." Es ist kompliziert.

Du verwendest das Wort Autofiktion, also eine autobiografische Erfahrung, die fiktionalisiert und auf eine andere Art und Weise wiedergegeben oder in einen anderen Kontext übersetzt wird.

Ja, das ist es, was ich jetzt zu tun versuche. Ich strebe danach, eine ausgewogene Verbindung zwischen Fiktion und Realität zu finden. Das aktuelle Projekt, an dem ich arbeite, schöpft aus persönlichen Erfahrungen, die ich gemacht habe. Dennoch beabsichtige ich, sie in eine fiktive Erzählung zu verwandeln. Autofiktion bietet mir die Möglichkeit, meine Geschichte auf meine eigene Art und Weise zu erzählen. Mein Ziel ist es, Unterhaltung zu bieten, etwas Leichtes zu schaffen und dabei vollkommen frei zu erzählen.

Während deiner Residency im MQ möchtest du deine vielen Ideen festhalten und sortieren, um den besten formalen Ansatz zu finden, sie umzusetzen. Am Ende könnte entweder eine Graphic Novel oder ein Animationsfilm entstehen. Was beeinflusst deine Entscheidung dabei?

Whatever moves is alive musste ein Animationsfilm sein, wegen der Bewegung. Es ist ein Film über Stillstand in Bewegung, wenn man in einer Welt feststeckt, die sich um einen herum beschleunigt. Das Kind rennt, aber die Mutter ist eher wie eine Schnecke. Sie ist nicht gelähmt, aber sie bewegt sich kaum. Das kann beängstigend sein, denn etwas, das sich überhaupt nicht bewegt, ist tot. Aber auch wenn der Fortschritt langsam ist, so ist es immer noch ein Fortschritt. Dieser Gedanke hat mich fasziniert und beruhigt zugleich.
Graphic Novels ermöglichen es, längere Geschichten mit einem kleineren Team und Budget zu erzählen. Man kann Ton und Dialoge auf Arten entwickeln, die sich nicht in einen Film übersetzen lassen. Ich nutze meinen Aufenthalt im MQ, um über "Pylactery" zu recherchieren und um mit Sound in Grafiken zu experimentieren. Eines der Dinge, die ich entwickeln möchte, handelt von der Kommunikation zwischen Menschen und Sprache ohne Worte. Welche Arten von Verbindungen können hergestellt werden, wie können sich Menschen ausdrücken, in Stimmen ohne Ton? Dafür möchte ich eine grafische Sprache finden.

Die Beziehung zur Leserin, zum Leser eines Buches ist eine ganz andere. Zeit ist hier ein anderer Faktor, die Leserin, der Leser kann ein Buch jederzeit auf- und zuklappen, um darüber nachzudenken; es wird ihm nicht einfach vorgesetzt, wie ein projizierter Film. Graphic Novels verlangen ihren Lesenden mehr ab, da sie die Lücken zwischen den Bildern füllen müssen. Die Geschichte muss zusammen mit dem Leser gebaut werden, es ist ein gemeinsamer Entstehungsprozess. Im Vergleich zu Filmen, wo zwar vorrausgesetzt wird, dass das Publikum einen Sinn aus den gezeigten Bildern konstruiert, die/der Regisseur:in jedoch Rhythmus und Zeitrahmen vorgibt, in dem diese verstanden werden sollen.

Dein nächstes Projekt wird eine autofiktionale romantische Komödie sein, die sich um eine 40-jährige alleinerziehende Mutter dreht, die kürzlich entdeckt hat, dass sie eine Meerjungfrau ist.Was hat dich dazu bewogen, dich für Meerjungfrauen zu interessieren?

Es ist eine Figur, die schon seit langem in meinen Tage- und Skizzenbüchern auftaucht, wie ein Alter Ego in Form einer Meerjungfrau. Ich wusste nicht so recht, woher das kommt, aber sehe es jetzt als eine Metapher für das Gefühl in der menschlichen Welt fremd zu sein. Man versucht, sich anzupassen, aber man will sich nicht verlieren. Ich arbeite daran, einen Weg zu finden, diese Metapher zu nutzen, eine Figur zu schaffen und sie in eine Geschichte zu verwandeln.

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Das Interview führte Amanda Barbour für Tricky Women/Tricky Realities.

Abbildungen: © Noémie Marsily

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