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Judith Siegmund: As Rights Go By

Interview

Judith Siegmund: As Rights Go By

Sabine Winkler, Kuratorin der Ausstellung “As Rights Go By – Über Rechtsverlust und Rechtlosigkeit”, traf die Künstlerin und ehemalige Artist-in-Residence Judith Siegmund, um über ihre installative Schriftarbeit im freiraum Q21 INTERNATIONAL zu sprechen.

Sabine Winkler, Kuratorin der Ausstellung “As Rights Go By – Über Rechtsverlust und Rechtlosigkeit”, traf die Künstlerin und ehemalige Artist-in-Residence Judith Siegmund, um über ihre installative Schriftarbeit im freiraum Q21 INTERNATIONAL zu sprechen.


Sabine Winkler: In Deiner installativen Schriftarbeit beschäftigst Du Dich mit dem Thema Wettbewerb, erforschst Rechtsverlust und Rechtlosigkeit im Kontext von Wettbewerb. Ausgewählte Sätze aus philosophischen Texten, von unterschiedlichen AutorInnen und aus unterschiedlichen Zeitperioden sind Dein Material, das Du kombinierst, in Beziehung setzt und im Raum wirken lässt, indem Du die barocken ovalen Nischen im Raum mit dem Textmaterial bespielst.
Meine erste Frage bezieht sich auf diese Verbindung von Text und Raum in Deiner Arbeit; und damit verbunden ist die Frage, was der Prozess des Auswählens an sich für Dich bedeutet.

J.S. Auswählen im Bezug auf mündliche und schriftliche Sprache bedeutet zunächst immer Dekontextualisieren. Die künstlerisch interessante Frage scheint mir, wie weit man da geht. Ist ein Zusammenhang gar nicht mehr herstellbar (mit dem Ursprungstext oder mit den anderen ausgestellten Zitaten) wird es nach meinem Eindruck langweilig. Man könnte sagen, das Ziel ist es, Zusammenhänge zu lockern, aber nicht ganz verlorengehen zu lassen. So entsteht, metaphorisch gesprochen, ein Raum für das Assoziative, in dem die BetrachterInnen bzw. LeserInnen nicht allein ihrer eigenen Phantasie überlassen sind, sie aber auch nicht stringent oder linear ‚an die Hand genommen werden‘, wie das oft beim Lesen (wissenschaftlicher) Texte der Fall ist.

Zusätzlich zur Auswahl und Neu-Zusammenstellung findet auch eine Verräumlichung statt, die ich zwar plane, deren Wirkung aber erst im Aufbau sichtbar wird. Die Schrift in den barocken Ovalen ist natürlich eine Brechung des Historischen, denn das Schriftbild ist ein modernes. Gedacht ist, dass die Besucherinnen und Besucher der Ausstellung hin- und herlaufen und dabei die verschiedenen Sätze zum Thema Wettbewerb und Rechtlosigkeit lesen, vielleicht auch im Wechsel mit der Betrachtung der Arbeiten der anderen Künstlerinnen und Künstler.

 

Welche unterschiedlichen Komponenten haben bei der Textauswahl eine Rolle gespielt? Du verwendest ja Textfragmente aus philosophischen und soziologischen Zusammenhängen von der Antike bis zur aktuellen Berichterstattung über Protest und Gewalt gegen Flüchtlinge.
Wie hängt Wettbewerb mit Rechtlosigkeit zusammen, was bewirkt er Deiner Meinung nach, auch im historischen Kontext, und was bedeutet Wettbewerb für Dich?

J.S. Ich habe darüber keine Thesen, sondern in Bezug auf den Zusammenhang von Rechtlosigkeit und Wettbewerb möchte ich vielmehr eine Irritation thematisieren, die ich in der letzten Zeit erlebt habe. Ich frage mich: Warum werden schutzlose und rechtlose Menschen von vielen als Konkurrenten im Wettbewerb behandelt? Was für eine Sozialisation, welches Verhältnis zur Welt steckt hinter einem solchen Verhalten?
Dass der Wettbewerb in unseren neoliberalen kapitalistischen Zeiten das Format ist, das unsere sozialen Kontakte bestimmt, ist zunächst eine fast banale Feststellung. Manche Theoretiker, z.B. John Stuart Mill oder  Albert O. Hirschman, deuten das durchaus positiv als eine Möglichkeit der Zivilisierung, als Alternative zu einem Antagonismus, der gewaltvoller verläuft als der ökonomische Wettbewerb. Schon in der Antike wurde ein gemäßigter Wettbewerb als eine positive, antreibende Kraft verstanden, wie das Zitat von Hesiod zeigt. Wie kommt es nun, dass heute in dieses Prinzip des ständigen Wetteiferns derart Hass und Gewalt eingetragen sind, dass Menschen sich z.B. nichts dabei denken, andere verhungern oder an Grenzen umkommen zu lassen? Und was hat dies mit der gefühlten Möglichkeit des eigenen Scheiterns zu tun? Inwiefern entspricht das Gefühl, selbst im Wettbewerb nicht zu bestehen, überhaupt der Tatsache der eigenen Möglichkeiten? Warum ist der eigene Vorteil immer noch das Kalkül, selbst wenn das Leben des Gegenübers bedroht ist? Und warum scheinen viele Menschen es für völlig legitim zu halten, aus der hilfsbedürftigen Lage anderer Vorteile zu ziehen, bzw. deren Rechtlosigkeit für sich auszunutzen? Eine anthropologisierende Antwort finde ich hier nicht zufriedenstellend; sie würde im Extremfall besagen, dass Menschen alle anderen, die nicht zu ihrem Stamm oder zu ihrer Familie gehören, von Natur aus abwehren oder vernichten wollen, und würde das mit der Eigenart der menschlichen Gattung begründen. Aber die Tatsache, dass eine ebenfalls große Gruppe von Menschen sich nicht so tribalistisch verhält, zeigt zu Genüge, dass Hass und die Ausübung von Gewalt nicht zwangsläufig zum Menschsein gehören.

Genau, Wettbewerb als möglicher positiver Antrieb für Entwicklung hat sich zunehmend in eine destruktive Wirkkraft verwandelt, weil er neben den ökonomischen alle anderen Lebensbereiche, Verhaltens- und Handlungsweisen mitbestimmt. Mit diesem destruktiven Potenzial ist die Wahrnehmung anderer ausschließlich als Konkurrenten verbunden. Inwieweit hängen diese zu beobachtenden Hassgefühle aber auch damit zusammen, dass der Glaube an die Konkurrenz-Erzählung, dass jeder/jede es schaffen könne, wenn man sich entsprechend den Wettkampfregeln verhält, sich optimiert, durchboxt, keine Rücksicht auf andere nimmt, sich für viele als Blase erwiesen hat, die vor allem Ungleichheit in der Gesellschaft befördert hat. Wenn das Gegenüber als Gegner betrachtet wird, hat das weitreichende Folgen. Übrig bleiben die von Dir angesprochenen verinnerlichten und antrainierten Wettkampf-Mechanismen, die in ihrer Brutalität als solche nicht mehr wahrgenommen werden, sondern Handlungsweisen bestimmen, die sich vor allem gegen die als Bedrohung wahrgenommenen Flüchtlinge richten. Dem Wettbewerb steht Solidarität als Handlungsmodell gegenüber, dem Hass die Liebe als emotionale Empfindung. Die Sehnsucht nach Solidarität scheint größer zu werden, wie könnte das genutzt werden, was kann Solidarität in der Gesellschaft bewirken und verändern?

J.S. Meine Meinung zu dem Thema ist, dass man wahrscheinlich nicht von allen, die sich bedroht fühlen, solidarisches Verhalten verlangen kann, aber man kann wohl ein bestimmtes Maß an Zivilisiertheit verlangen, das es verbietet, jemandem, dem oder der keine staatsbürgerlichen Rechte zukommen, auch noch das Recht auf Leben oder Überleben abzusprechen. Das entspricht, vereinfacht gesagt, der Regel, die man Kindern früher beigebracht hat – das Schlagen von Schwächeren ist unmoralisch und daher verboten, so wie man nicht auf jemanden tritt, der auf dem Schulhof auf dem Boden liegt. Solche einfachen Spielregeln scheinen heute immer mehr verlorenzugehen, wenn die Kinder schon von Beginn an konditioniert werden, zu einer Elite zu gehören, die sich selbst bessere Bedingungen sichert, als die Mehrheit sie hat. Auch Menschen, die an sich nicht schlecht dastehen von ihren Bedingungen her, bemühen sich in einer auffälligen Intensität darum, eine Art ‚Vorsprung‘ zu bekommen, und nehmen die Methoden ihres Agierens nicht wahr. Demgegenüber erscheinen Menschen, die von Solidarität reden, heute als naive Träumer. Die Gefahr, dass Solidarität und Liebe nur noch in esoterischen Formaten vertreten werden, wächst. Echte Solidarität jenseits des Esoterischen würde jedenfalls bedeuten, dass man das Risiko eingeht, eventuell etwas abgeben zu müssen.

Esoterische Formate kamen parallel zum Neoliberalismus so richtig in den 1980er Jahren in Schwung, was bezeichnend ist. Was dort vielleicht geblieben ist, ist die Rede von Solidarität. Verwertung, Instrumentalisierung und Pervertierung von Solidarität als Gemeinschaftsgefühl ist in den Radikalisierungspraxen religiöser Gruppen zu beobachten. Aber das ist eine andere Geschichte.
Ich danke dir sehr für das Gespräch.

Judith Siegmund (1965, Berlin) arbeitet als Philosophin und als Konzept- und Videokünstlerin. Zusätzlich zu ihrer künstlerischen Praxis hat sie an verschiedenen Kunstakademien und Universitäten gelehrt. Zur Zeit hat sie eine Juniorprofessur für Theorie der Gestaltung/Ästhetische Theorie mit einer Teildenomination für Gendertheorie an der Universität der Künste Berlin inne. Im Oktober 2015 war sie als Artist-in-Residence des Q21 zu Gast in Wien.

www.judithsiegmund.de

As Rights Go By  – Über Rechtsverlust und Rechtlosigkeit
Ort: 
freiraum Q21 INTERNATIONAL
Dauer: 15. April bis 12. Juni 2016, tgl. 13 bis 16h und 16:30 bis 20h
Eintritt frei
www.Q21.at/freiraum
#AsRightsGoBy

Interview: Sabine Winkler, Kuratorin

Judith Siegmund: As Rights Go By, Foto: Suchart Wannaset

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