"Alles verstehen heißt alles verzeihen."
"Ich meine, wenn man etwas nicht vergeben kann, dann hat man es noch nicht verstanden", sagt die Künstlerin Tanya von Barnau Sythoff, die als 12-jähriges Mädchen als Tochter eines UN-Offiziers in den Nahen Osten kam und in der Ausstellung united nations extended - The Vienna Dialog mit einer sehr persönlichen Arbeit vertreten ist im Interview.
Ich habe gehört, dass Du in Deinem Beitrag für die Ausstellung „united nations extended – The Vienna Dialog“ eine Reise zurück in Deine eigene Vergangenheit gemacht hast. 1972 hast Du für ein Jahr mit Deiner Familie im Nahen Osten verbracht, weil Dein Vater dort als Offizier für die U.N.T.S.O. gearbeitet hat. Welche Erinnerungen hast Du an diese Zeit?
Also erstmal macht man eine ganz lange Reise in eine ganz andere Kultur, aber eben mit der ganzen Familie, so dass es sich auch ein bisschen wie Ferien anfühlte. Mein Vater war dort arbeiten, und wir als Familie hatten tagsüber Unterricht bei meiner Mutter, sie ist Lehrerin und hatte die Erlaubnis uns zu unterrichten,…
…ihr hattet Privatunterricht bei eurer Mutter?
Ja. Nachmittags hatten wir dann frei und durften schwimmen, spielen, wilde Katzen jagen,Schildkröten füttern, auf dem Markt in Tiberias einkaufen, usw. Wir haben alles mitgenommen, was das normale Leben dort ausmachte. Im Hinterkopf hatten wir natürlich, dass wir uns in einem Konfliktgebiet befanden. Deshalb war die UN ja da. Ab und an haben wir von den Konflikten etwas mitbekommen. Als Familie waren wir Mitglied der U.N.T.S.O., der „United Nations Truce Supervision Organization“. Das war die Abteilung der UN die den Waffenstillstand überwachen sollte und überprüfte, ob sich die einzelnen Parteien an die getroffenen Vereinbarungen hielten. Wir besaßen alle einen Ausweis, die es uns erlaubte, über typische Militärgrenzen zu reisen, was natürlich nur für Mitglieder der UNO oder des Roten Kreuzes möglich war. Als Familie konnten wir das gemeinsam mit unserem Vater nutzen. So sind wir alle vier Tagen für vier Tage gereist. Mein Vater musste immer vier Tage am Stück arbeiten. Er saß in einem Bunker mit Fernglas und dokumentierte das Geschehen. Wenn mein Vater arbeiten musste, machten wir unsere Schulaufgaben. Nach vier Tagen kam er nach Hause, dann reisten wir, nach Petra im Süden und Jordanien. Wir waren auch im Libanon, bis zur türkischen Grenze. In Damaskus haben wir die zweite Hälfte unseres Aufenthaltes verbracht und von dort aus ebenfalls Ausflüge gemacht.
Habt ihr denn mitbekommen, was euer Vater genau gearbeitet hat?
Oh ja, durchaus. Wir wussten natürlich nicht genau was, seine Notizen waren geheim. Aber er konnte schon das eine oder andere erzählen. 1972 war in dem Sinne ja ein kritisches Jahr. Als das „Olympia-Attentat“ in München am 5. September 1972 stattfand, haben wir direkt miterlebt – mein Vater war damals auf OP, also Observation Post –, wie die Stimmung in Israel umschlug und noch am selben Tag mobil gemacht wurde. Klar, die wollten sich natürlich direkt revanchieren. Ob das an einem Sabbat war, weiß ich nicht mehr genau, aber uns war ganz klar, dass wir ab jetzt nicht mehr auf die Straße durften. Es wurde eine Art Ausgangssperre verhängt.
Wie weit konntet ihr euch als Kinder oder auch als Familie innerhalb dieses einen Jahres dort integrieren?
Also mit den Nachbarskindern ging das sehr gut und auch mit ein paar anderen „UN-Familien“. Wir waren eine kleine Community. Es war aber auch auch außerhalb dieser möglich. Ich habe zum Beispiel einen israelischen Kreativkurs besucht. Da ging ich ganz alleine hin und saß mit anderen Kindern zusammen, um zu basteln, das mochte ich. Oder aber wir sind mit Freunden am See von Genezareth Fischen gegangen.
Gab es denn ein Erlebnis oder Ereignis, dass Dich auch nachhaltig sehr beeinflusst oder lange beschäftigt hat?
Ja, eine Sache, die mich immer wieder beschäftigte, werde ich jetzt auch hier in der Ausstellung „united nations extended - The Vienna Dialog“ zeigen: zwei Briefmarken. Wie viele andere Kinder und Jugendliche auch sammelte ich damals Briefmarken. Meine Spezialität waren Länder. In einem Laden in Syrien fand ich dann besagte Briefmarken. Beide zeigen eine Zeichnung von Israel mit einem Blutfleck, in dem ein Dolch steckt. Das war für mich damals ein sehr hartes Bild. Ich war wirklich erschrocken von der Heftigkeit dieser Briefmarken und habe sehr mit mir selbst gerungen, ob ich sie überhaupt kaufen sollte. Schließlich war ich Sammlerin und habe sie gekauft. Ich weiß aber noch, dass es eine wirklich schwierige Entscheidung für mich war. Bis ich dann wirklich verstanden habe, was hinter der Zeichnung auf den Briefmarken steckt, vergingen viele Jahre. Die Zeichnung verweist auf das Massaker von Deir Yasin, das im April 1948, kurz vor der Gründung des Staates Israels, passierte.
Paramilitärische Verbände der extremistischen Organisationen Irgun Tzwai Le'umi (IZL) und Leichi griffen das arabische Dorf Deir Yasin im Nordwesten von Jerusalem an. Sie sind einfach in die Häuser gegangen. So etwas passiert immer wieder, dass die Zivilbevölkerung innerhalb eines Krieges zuerst betroffen ist. Infolge des Massakers und aus weiteren Gründen waren noch vor dem eigentlichen Beginn des Palästinakriegs am 14. Mai 1948 schon knapp 300.000 arabische Palästinenser zu Flüchtlingen geworden. In dem Sinn war das also ein Erfolg, weil sich niemand mehr in seinem Haus und Bezirk sicher fühlte. Bis heute darf man in Israel nicht über das Massaker sprechen, das ist verboten.
Warum?
Diese Gewalttat ist allein von ihrem Ablauf her sehr heikel. Lass es mich so formulieren: die Geschichtsschreiber finden nicht, dass es in die Geschichte Israels gehört. Das ist etwas, was immer wieder mein Thema ist. Es gibt immer eine offizielle Auslegung eines Geschehnisses, gegen die die individuellen Erfahrungen von sehr vielen einzelnen Menschen stehen. Man kann sich natürlich immer allgemein über die Geschichte informieren lassen, aber man muss sehr vorsichtig damit sein, daraus dann Schlüsse zu ziehen. Es gibt Differenzen, allein dabei, was ich sage und was der andere versteht, wie er es interpretiert. Gerade in unserer Zeit, in der die Medien so viel Einfluss auf unsere tägliche Wahrnehmung haben und in der viele Leute die meisten Situationen, über die in der Öffentlichkeit gesprochen wird, nicht selbst erleben, sondern über eine zweite oder dritte Sicht auf eine gelebte Erfahrung vermittelt bekommen, müssen wir unglaublich aufpassen, uns nicht in Vorurteile und Allgemeinheiten zu verfangen.
Ja, diese Sichtweisen sind ja zudem stark gesteuert…
Völlig. Auch bei dem Attentat im Januar in Paris hat mich dieses Auftreten der Massen, die da plötzlich alle unter dem Slogan „Je suis Charlie“ auf die Straßen gingen, gestört. Ich verstehe die Empörung, ich verstehe, dass Leute Angst haben und dass sie unsicher sind. Aber die Art von vermeintlicher Sicherheit, unter der sich die Leute auf öffentlichen Straßen und Plätzen zusammenschlossen, oder auch die vielen Autoren, die den Slogan auf ihren Blog setzten, waren mir unheimlich. Wirklich unheimlich. Ich dachte die ganze Zeit, das ist es nicht. Ich hatte den Eindruck, dass alle von etwas gesteuert waren. Das war keine freie Meinungsäußerung. Das entspricht nicht dem Menschlichen. Klar, man muss immer wieder breite Bewegungen auf die Beine stellen, um bestimmte Dinge anzuprangern oder für etwas Bestimmtes einzustehen und dessen Wichtigkeit einen gewissen Nachdruck zu verleihen. Das war das, was mich am Pariser Attentat bewegte. Damals als ich die Briefmarke kaufte, war ich zwölf, war aber irgendwie schon in der Lage, gewisse Dinge einschätzen zu können. Am Ende unseres Aufenthaltes habe ich dann auch den Anfang des Bürgerkrieges in Beirut miterlebt. Da gab es 1972/73 schon erste Unruhen. Richtig konkret war ich damit dann 1973 konfrontiert, als ich einmal für ein paar Stunden ganz alleine, ohne meine Eltern, nur mit meinen Geschwistern während einer kritischen Situation in einem Apartmenthotel warten musste. Mein Vater war in einem Teil der Stadt, meine Mutter in einem anderen. Beide Teile waren von unterschiedlichen Gegnern besetzt. Der eine Teil von pro-westlichen Christen, der andere von arabischen Nationalisten. Sie haben sich gegenseitig attackiert. Auf einmal liefen bewaffnete Soldaten in voller Ausrüstung durch die Straßen, Panzer fuhren auf und ab…Wir gingen zur Hotelrezeption und wurden dort gleich gefragt, wo denn unsere Eltern seien. Wir wussten es nicht und haben so ein paar Stunden ausgeharrt, bis mein Vater nach Hause kam. Meine Mutter fehlte noch. Sie wurde richtig aufgehalten, weil sie in einem Taxi saß, dessen Fahrer sich weigerte weiter zu fahren. Es war ihm zu gefährlich. Das war einer der Momente, der mir deutlich zeigte, dass es wirklich spannungsreich war, sich in diesen Gebieten aufzuhalten. Für kurze Zeit bekam ich eine Vorstellung davon, wie schnell sich das Leben ändern kann. Aber wir hatten Glück und sind gut dort weg gekommen.
Und deshalb seid ihr dann zurück in die Niederlande?
Na ja, die Verträge bei der UN liefen immer nur ein Jahr.
Ich möchte gerne nochmals zu Deinen Briefmarken und der Geschichte dazu zurückkehren. Wann war für Dich der Zeitpunkt, an dem Du wirklich die ganze Geschichte mit all ihren Facetten verstanden und begriffen hast?
Ich habe immer wieder einen Blick in meine Sammlung geworfen. Diese Briefmarken haben mir lange Zeit immer ein gewisses Unbehagen bereitet. Ich traute mich lange nicht, mich ihrer Wahrheit zu nähern. Ich kann allein deshalb vielleicht auch verstehen, dass diese ganze Geschichte ein so heikles Thema ist. Für manche Dinge, die passieren, schämen sich die Menschen vielleicht auch rückgängig machen kann man es natürlich nicht mehr… Ich verstehe also vor allem die menschlichen Beweggründe, warum man zuweilen über solche Vorfälle lieber nicht mehr sprechen möchte. Ich kann dabei aber immer nur für mich selbst sprechen… Ich habe mich mit all den Konflikten in und um den Nahen Osten lange nicht befasst. Die ersten 10 Jahre nach unserem Aufenthalt dort eigentlich gar nicht. Ich habe zwar auf der Kunsthochschule studiert und man hätte sehr wohl denken können, dass ich mich dann intensiver mit all dem beschäftige, aber ich bin ganz anders mit Geschichten umgegangen. Weniger konkret. Ich habe mich eigentlich erst in den letzten 15 Jahren mit ein paar Sachen geschichtlich auseinander gesetzt, habe alle Kriege für mich aufgelistet usw. und habe dabei tatsächlich auch gelesen, was genau bei diesem Massaker 1948 passiert ist. Diese Briefmarken aus meiner Sammlung wurden von den Vereinigten Arabischen Republiken herausgegeben. Das war so eine Art Zusammenschluss von u.a. Ägypten, Syrien, Saudi-Arabien. Ende der 1950er Jahre wurde die Liaison bereits aufgelöst. Die Briefmarken, die ich besitze, sind allerdings aus dem Jahr 1965. Ich zeige nur die zwei, die ich damals gekauft habe, es gibt viele vergleichbare Marken zu demselben Thema, alle ähnlich grafisch dargestellt. Ich will jedoch nicht die Marke an sich ästhetisieren, ich will einfach nur diese persönliche Erfahrung zeigen.
Was ich aber gemacht habe, um den Briefmarken – auch für mich – einen Platz, eine Art Rahmen oder Kontext zu geben, ist folgendes: Es gibt diesen schönen französischen Satz von Madame de Staël: „tout comprendre c'est tout pardonner“, der besagt: alles Verstehen heißt alles Entschuldigen, sich über nichts empören. Vincent van Gogh hat ihn in einem Brief an seine Schwester Willemien zitiert. Der Satz ist auch für mich ein Leitmotiv. Wenn man etwas wirklich versteht, wie es ist und wie alles zusammenhängt, dann müsste man das auch vergeben können, also „c’est tout pardonner". Das ist natürlich schwer, aber ich meine, wenn man etwas nicht vergeben kann, dann hat man es noch nicht verstanden. Ich habe jetzt zu den alten Briefmarken, von denen ich schon glaube, dass ich verstehe, was dahinter steht, eine neue Briefmarke gezeichnet. Es gibt hier die Möglichkeit, bei der Post seine eigene Marke zu erstellen. Und deshalb habe ich jetzt eine kleine Auflage von Briefmarken produzieren lassen, mit einem eigenen Motiv von mir. Dafür habe ich ein kleines Symbol gemacht. Der Titel der Briefmarke ist: „and the world will live as one“. Es ist der letzte Satz von John Lennons Lied „Imagine“. Besonders wenn man den gesamten Liedtext liest, ist dieser Satz schon ziemlich heftig, weil er die Ursache von Gewalt in Staat und Religion sieht. Das ist Pazifismus pur, der sagt: Staat und Religion sind immer ein Grund, warum wir uns nicht verstehen. So ist der letzte Satz des Liedes die Essenz und schlägt den Bogen zum Anfang unseres Gesprächs: „I am a dreamer but I am not the only one“. Für mich ist das Lied auch etwas, an dem ich mich festhalten und orientieren kann.
Wirst Du denn außer der Briefmarke noch etwas zeigen?
Ja, ich habe damals auch schon immer fotografiert und zeige also ein paar Fotos von mir, die aber ziemlich grottig sind. Damals gab es nur Schwarzweißfotografie, und ich hatte so eine simple Boxkamera. Dennoch gibt es ein paar Aufnahmen von meinem Vater, seinem Jeep, und natürlich habe ich unsere Reisen dokumentiert. Daneben gibt es andere Fotos aus der Zeit, nicht von mir, ein Reisebuch und ein Buch mit Postkarten – ich sammle nämlich auch leidenschaftlich Postkarten. Im Reisebuch habe ich von jedem Ort Postkarten, Tickets usw. eingeklebt und alles dokumentiert.
Du beschäftigst Dich zwar auch sonst in Deiner Kunst mit Geschichte, aber…
…mit meinen eigenen Geschichten im Gegensatz zur allgemein verbreiteten Geschichte, aber selten so wie jetzt in dieser Arbeit. Das ist ein neuer Ansatz für mich. Die Arbeit heißt „1972“, und ich zeige zusätzlich zu den Briefmarken ein ziemlich großes Bild von mir selbst aus der Zeit, weil ich zum einen finde, dass es ein sehr gelungenes Porträt ist, das mein Großvater von mir gemacht hat, und zum anderen, um klar zumachen, dass diese Arbeit eine ganz persönliche ist. Träumen darf man immer und als Künstler muss man sich auch mal so richtig auf eine Außenseiterposition setzen. Ich bin jedenfalls sehr dankbar, dass ich zu dieser Ausstellung genau diese Note beitragen darf.
(Das Interview wurde am Donnerstag, 26.02.2015 in Tanyas vorübergehendem Studio im MQ in Wien geführt.)
Interview: Hannah Schwegler
Photos: Eva Ellersdorfer-Meissnerová