Kantarama Gahigiri über den Umgang mit Zeit, Hoffnung und ihre Residency im MQ
Die in Kooperation mit this human world, eingeladene Künstlerin Kantarama Gahigiri gastiert derzeit als eine von insgesamt acht Artists-in-Residence im MuseumsQuartier Wien. Im Gespräch mit Xandi Egginton, Co-Leiter des this human world - International Human Rights Film Festival gibt die Künstlerin Einblick in ihr Schaffen.
Kantarama, in deinem Werk fällt mir auf, dass du oft mit Slowmotion arbeitest. Ich frage mich, was diese Form vermittelt und welche ästhetischen und symbolischen Möglichkeiten sie für dich eröffnet. Am Anfang von „Terra Mater" war mir zum Beispiel erst gar nicht klar, dass die Kamera in Slowmotion filmt, weil alles so unfassbar ruhig war. Erst als ich kleinere Bewegungen bemerkt habe, wurde mir bewusst, dass ich auf eine andere Art der Raumwahrnehmung eingestellt war.
Ich reflektiere viel darüber, was Zeit eigentlich ist und was sie in verschiedenen Kulturen bedeutet. Ich selbst bin kulturell divers, ursprünglich aus der Schweiz und aus Ruanda. Seit meiner Kindheit bin ich mit beiden Kulturen vertraut und bin mein ganzes Leben zwischen Afrika und Europa hin und her gereist. Die Idee eines unterschiedlichen Umgangs mit Zeit, sei sie linear oder zyklisch, und wie sie dein Leben beeinflusst, war für mich immer präsent und auch herausfordernd. Immer wenn ich nach Europa zurückkomme, in ein eher westliches, nördliches System, muss ich mich neu anpassen. Und wenn ich dann wieder nach Afrika zurückkehre, ist es ein anderer Zugang, ein anderer Rhythmus. Diese Anpassung ist eine körperliche Erfahrung. Zum Beispiel gibt es im Kinyarwanda, der ruandischen Sprache, ein interessantes Phänomen, das auch in den Nachbarsprachen zu finden ist: Wir verwenden dasselbe Wort für „gestern“ und „morgen“ – „ejo“. Es könnte im Grunde als „nicht jetzt“ interpretiert werden und wenn man dieses Konzept begreift, erkennt man etwas Zyklisches an der Zeit. Als ich die beiden Filme (Ethereality und Terra Mater) konzipiert habe, besonders bei Terra Mater, habe ich nach einer nicht-westlichen, nicht-kolonialen Art des Erzählens gesucht. Deshalb wollte ich verschiedene Texturen und Rhythmen übereinanderlegen, und die Slowmotion-Technik hat es mir ermöglicht, Zeit zu dehnen sowie zu raffen und die Zuschauer:innen in einen Zustand der Schwebe zu versetzen.
Es ist eine eindringliche Erfahrung, besonders wenn man sieht, wie diese Behandlung von Zeit nicht nur auf Menschen in „Terra Mater" wirkt, sondern auch auf die nicht-menschlichen Dimensionen, wie das Rascheln des Mülls durch den Wind. Ich wurde in einen anderen Wahrnehmungsmodus versetzt, was wirklich anregend war.
Es freut mich, dass du es als sensorisch empfunden hast, denn es war meine Absicht, das Seherlebnis zu erweitern und Terra Mater zu etwas mehr als einem rein geistigen Prozess zu machen, bei dem ich den Zuschauer:innen „nur” etwas erzähle. Meine Absicht war es, ein sinnesfreudiges, körperliches Erlebnis zu schaffen. Wie du bereits erwähnt hast, war eine der Methoden, mit der Raffung und Dehnung von Zeit zu spielen. Eine andere war, wie wir die eher futuristische Klanglandschaft gestaltet haben: Terra Mater setzt nonverbal ein, aber es passiert sehr viel, das von den Elementen, den Tieren, der Verschmutzung selbst ausgeht. Es ist auch ein Kommentar zu unseren uns umgebenden Räumen und wie wir uns zu ihnen verhalten. Klang, Geschwindigkeit und andere Erzählwerkzeuge sind unsere Mittel, um diese philosophischen Konzepte der Zirkularität und Verbundenheit abzubilden. Es geht darum, den Schwerpunkt unserer Erfahrung zu verlagern: aus dem Geistigen heraus, hinein in die sensorische Intelligenz.
Siehst du Hoffnung und das Angebot eines möglichen Imaginationsraums als wichtige Elemente in deiner Arbeit oder in anderen Werken, die du bewunderst? Wie wirst du auch weiterhin auf diese Hoffnung zugreifen können?
Aus Ruanda kommend... Nun, wenn du die Geschichte kennst, weißt du, dass wir 1994 ein schwerwiegendes Ereignis erlebt haben – den Genozid an den Tutsis – und was es mich gelehrt hat, ist, dass jenseits des Horrors, jenseits von Verlust und Verzweiflung, Menschen unglaublich resilient sind. Sie können sich neu definieren und sich wieder aufrichten, wie Phönixe, die aus der Asche aufsteigen. Wenn du heute Ruanda besuchst, siehst du ein Land, das wieder aufgebaut wurde. Das ist inspirierend.
Auf einer anderen Ebene gibt es viele Lehren, die von lokalen indigenen Völkern auf der ganzen Welt gezogen werden können, Lehren, die symbiotische Wege entwickelt haben, die Umwelt zu erhalten. Vielleicht können wir uns in der heutigen Welt von ihrer Dynamik inspirieren lassen und sie an unsere heutige Situation anpassen. Wir könnten das Traditionelle und das Technologische vereinen und daraus etwas Tugendhaftes erschaffen. Das wäre der ideale Weg, und ich bleibe hoffnungsvoll, weil ich glaube, dass Menschen eine sehr starke Anpassungsfähigkeit und einen großen Überlebenswillen haben.
Danke dafür. Ich finde, dass Hoffnung heutzutage oft zu wenig wertgeschätzt wird. In Bezug auf deine nächsten Projekte interessiert mich, wie ein Artist-in-Residence-Aufenthalt wie dieser, dir Möglichkeiten eröffnet, deine künstlerische Arbeit weiterzuentwickeln.
Die Möglichkeit, im Rahmen des MQ Artist-in-Residence Programms, in einem Raum wie dem MuseumsQuartier willkommen geheißen zu werden, ist ein großes Privileg und ich bin sehr dankbar, hier zu sein. Ich habe in Nairobi gelebt und im März und April hatten wir eine Klimakatastrophe mit Überschwemmungen. Mehr als 500.000 Menschen in der Region – Kenia, Tansania, Burundi – wurden vertrieben. Wenige Monate später, im Juni und Juli, gab es einen großen politischen Aufstand. Es war ein sehr intensives Jahr. Als Künstlerin ist es wichtig, mit der eigenen Zeit in Verbindung zu stehen, aber es ist auch wichtig, einen sicheren Ort zum Arbeiten zu haben. Die Residency im MQ ermöglicht es mir, aus den intensiven Erfahrungen dieses Jahres zu schöpfen. Ich kann Ideen entwickeln, Verbindungen zwischen klima- und politikbezogenen Themen erforschen und hoffe, all das in ein neues Kunstwerk zu transformieren. Ich schätze es auch, dass ich mich hier mit anderen vernetzen kann – nicht nur im MQ, sondern in der erweiterten Community. Es ist mir wichtig, zu erfahren, welche aktuellen Tendenzen es gibt, womit sich Menschen hier beschäftigen, um Korrespondenzen und Inspiration in der Arbeit und dem Leben anderer zu finden.
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Xandi Egginton ist Co-Leiter des this human world - International Human Rights Film Festival. Er hat seinen B.A. in Kulturanthropologie an der Johns Hopkins University absolviert und ist ein österreichisch-US-amerikanischer Multimediakünstler und Kurator, hat u.a. für das BmoreArt Magazine und den Johns Hopkins Newsletter geschrieben und ist Autor der Novelle 3200 BOHEMIAN AVE (2024).
Kantarama Gahigiri ist eine ruandische Künstlerin, Autorin und Regisseurin. Sie ist Alumna von La Fabrique Cinéma (Cannes), Le Moulin d’Andé und AiR Residencies. Derzeit forscht sie an den Themen “Identität” sowie “Souveränität” und deren filmische Repräsentation. Kantarama arbeitet zwischen Ostafrika und der Schweiz, präsentiert ihre Filme auf renommierten Festivals wie dem Locarno Film Festival, der Berlinale, IDFA und Sundance, und wurde 2024 für den Schweizer Filmpreis nominiert (Terra Mater). Ihre jüngsten Projekte beschäftigen sich mit Migration und dem Gefühl von Zugehörigkeit (Ethereality, Gewinner des Best Short Doc Award beim FESPACO und des this human world EXPANDED SHORTS JURY AWARD in Wien) sowie mit den Verflechtungen von Kolonialisierung, Kapitalismus und Klimawandel (Terra Mater, Postcard From The Future - Mother Earth).
Filmstills © Kantarama Gahigiri